
Stena Line im Jahr 1967
1967 treten neue Bestimmungen zur Einfuhr zollfreier Waren in Kraft. Die so genannte 24-Stunden-Regel wird eingeführt und schreibt vor, dass sich Passagiere künftig mindestens 24 Stunden außerhalb von Schweden aufgehalten haben müssen, um zollfreie Waren ins Land einführen zu dürfen. Die Stena Line ist auf diese neue Situation gut vorbereitet und passt ihren Betrieb an die neue Regelung an.
Der Fährverkehr auf den Sommer-Strecken des Vorjahres Trelleborg-Kopenhagen, Lysekil-Skagen und Luleå-Kemi wird eingestellt. Aufgrund der neuen Einfuhrregelung sind diese Routen nicht mehr länger rentabel. Das hat u. a. zur Folge, dass die AFRODITE überzählig ist und daher als Charter-Fähre im südlichen Öresund eingesetzt wird. Dort trifft sie auf eine alte Bekannte aus der Flotte der Stena Line: Die STENA BALTICA ist ebenfalls für die Winter- und Frühjahrssaison verchartert worden und ist auch im Öresund unterwegs. Eine weitere Fähre, die im Charter-Verkehr ihre Dienste leistet, ist die STENA NORDICA, die für British Rail zwischen Stranraer und Larne in der Irischen See im Einsatz ist. Die Stena Line beweist in Charter-Angelegenheiten – einer zur damaligen Zeit noch eher unüblichen Geschäftsmethode – viel Geschick und erreicht damit, dass ihre Schiffe jederzeit ausgelastet sind und Ertrag erwirtschaften.
Das Passagierschiff POSEIDON bedient weiterhin die Linie Stockholm-Mariehamn, bei der man trotz der neuen Zollbestimmung viel Entwicklungspotential sieht. Die Passagierkapazität ist hoch, und das beliebte Schiff gut gebucht. Den Hoteliers auf Åland beschert die neue Zollregulierung einen willkommenen Aufschwung und belebt das Geschäft. Das Konzept „Mariehamn by night” erfreut sich bei schwedischen Touristen immer größerer Beliebtheit. Man reist mit dem Schiff nach Mariehamn, übernachtet dort und fährt am nächsten Tag wieder zurück – und darf eine zollfreie Ration Alkohol und Zigaretten einführen.
Ein richtiger „Goldesel”
Die Route Göteborg-Frederikshavn mit der kleinen, aber ungemein lukrativen STENA DANICA erweist sich in diesem Jahr für die Stena Line als wahre Goldgrube. Das Autodeck der Fähre ist häufig mit LKWs belegt. Während der in Schweden üblichen Betriebsferien, in denen viele Firmen gleichzeitig ihre Tore schließen und daher das LKW-Aufkommen zurückgeht, füllt sich das Autodeck stattdessen mit den PKWs der urlaubenden Touristen. Die Göteborger unternehmen weiterhin Tages- und Nachtfahrten nach Frederikshavn. Die Qualität des Speiseangebots und der Service an Bord werden immer besser.
Auch in Dänemark profitiert der Hotelbetrieb von der neuen 24-Stunden-Regel zur Einfuhr zollfreier Waren. Die schöne Stadt Skagen wird zu einem besonders beliebten Reiseziel für die Passagiere der Stena Line, auch wenn sie nun den Seeweg über Frederikshavn nehmen. Die Großstadt Ålborg lockt ebenfalls viele Schweden an.
Der Schiffsverkehr von und nach Jütland erwirtschaftet hohe Gewinne. Die relativ kurze Überfahrt ermöglicht vier Touren pro Tag. Bedarf und Nachfrage sind so groß, dass der Markt genügend Raum für die Schiffe der Stena Line und der Sessanlinjen lässt. Die Buchungszahlen sind hoch und die Fähren gut belegt. Auch wenn die Lion Ferry-Reederei aus Varberg mit den Göteborger Reedereien um die Jütland-Reisenden konkurriert, kommt sie nicht einmal ansatzweise in die Nähe der Zahlen, die die Stena Line erreicht.
Obwohl die STENA DANICA gerade erst zwei Jahre in Betrieb ist, wird offensichtlich, dass ihre Kapazität nicht ausreicht und sie durch eine deutlich größere Fähre ersetzt werden muss. Auf dem Zeichentisch nimmt die weitere Planung bereits konkrete Formen an.
Eine Frage des Prestiges
Im Jahr 1963 hatte die Stena den Fährbetrieb auf der Route Nakskov-Kiel durch ihre dänische Tochtergesellschaft KL-Linjen aufgenommen. Seit 1964 gab es konkrete Pläne für eine Linie Göteborg-Kiel, die eigentlich bereits 1966 in Betrieb gehen sollte. Aber Probleme beim Bau der neuen Fähre verzögerten den Startschuss für die neue Linie.
1967 ist es aber endlich so weit: Das neue Flaggschiff der Reederei – die STENA GERMANICA – tritt ihren Dienst an. Zwischen Göteborg und Kiel liegen 244 Seemeilen, und die neue Fähre, die eine außergewöhnliche Geschwindigkeit von bis zu 23,5 Knoten erreicht, kann eine einfache Fahrt in gut 11 Stunden bewältigen. Die STENA GERMANICA ist darüber hinaus mit Abstand die größte Fähre in der Flotte der Stena Line. Mit der neuen Fährlinie nach Kiel betreibt die Stena Line, wie sich die Reederei mittlerweile nun auch ganz offiziell nennt, ein äußerst prestigeträchtiges Unterfangen. Der Fährverkehr nach Kiel ist eine ganz andere Größenordnung als die Vergnügungsreisen nach Skagen, obwohl sich dahinter dieselbe Idee verbirgt. Man möchte den Göteborgern ein neues, attraktives Ziel bieten. Die Stena Line hatte nicht nur Kiel als möglichen Zielhafen in Betracht gezogen, sondern auch im Umkreis liegende Städte wie Hamburg, Bremen und Hannover in ihre Überlegungen einbezogen.
Nach wie vor setzt das Geschäftskonzept der Stena Line vorrangig auf den Transport von Passagieren, der Gütertransport spielt eine eher untergeordnete Rolle. Dies macht sich auch darin bemerkbar, dass an den Seiten des Autodecks der neuen Fähre Passagierkabinen eingerichtet werden.
Westdeutschland erlebt in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Die schweren Nachkriegsjahre sind überwunden, und trotz der politischen Spannungen in Europa blickt die Bundesrepublik optimistisch in die Zukunft. 1967 laufen zahlreiche schwedische Fähren Travemünde/Lübeck gleich von mehreren Häfen aus an: Trelleborg, Malmö, Helsingborg und Nynäshamn. Obwohl die Konkurrenz hart ist, ist die lange Linie Göteborg-Kiel vom zeitlichen Faktor aus betrachtet der beste Weg für Passagiere aus dem Göteborger Raum und den weiter nördlich liegenden Regionen auf das europäische Festland.
Am 15. April 1967 wird die STENA GERMANICA geliefert. Die Taufe des zu diesem Zeitpunkt komplett fertig gestellten Schiffes erfolgt knapp zwei Wochen später am Stenpiren im Hafen von Göteborg. Prominente Taufpatin ist Helga Renger, Ehefrau des damaligen Kieler Stadtrats Rolf Renger. Nach der offiziellen Zeremonie dürfen die Göteborger an Bord und das Schiff besichtigen. Dies ist ein extrem werbewirksamer Schachzug. Die geschmackvolle und elegante Einrichtung der STENA GERMANICA verfehlt ihren Reiz nicht. Die Besucher fühlen sich von der hochwertigen Ausstattung angesprochen und sind einstimmig der Meinung, dass man auf der STENA GERMANICA erster Klasse reist.
Ein neues Terminal
Die Bauarbeiten am Skandiahamnen in Göteborg sind zu diesem Zeitpunkt fast beendet. Im nordwestlichen Hafengebiet eröffnet die Stena Line für den Fährbetrieb nach Deutschland ein neues Terminal. Das moderne Terminalgebäude liegt auf einer Berghöhe und verfügt u. a. über eine Wartehalle, eine Zoll- und Passkontrolle, eine Cafeteria und administrative Bereiche.
Der Stenpiren hatte damals nicht genügend Kapazität, um sowohl den Deutschland- als auch den Dänemark-Fähren Platz zu bieten. Dem äußerst knapp bemessenen Fahrplan der STENA GERMANICA kommt der neue Liegeplatz nur entgegen, auf diese Weise spart man sich die langsame Fahrt den Göta Älv hinauf.
Die erste Fähre, die das neue Deutschland-Terminal nutzt, ist allerdings die STENA DANICA, die neuerdings dort vor Anker geht, um LKWs an Bord zu nehmen. Auf diese Weise muss sie auf ihrem Weg nach Frederikshavn nicht mehr länger einen Zwischenstopp im Sannegårdshamnen einlegen.
Ein erfolgreicher Start
Es stellt sich heraus, dass sich das ambitionierte Vorhaben, jeden Tag volle Fahrt mit 23 Knoten zu leisten, um den engen Fahrplan einhalten zu können, nicht umsetzen lässt. Anfangs sticht die STENA GERMANICA täglich abends um 19:00 Uhr in beide Richtungen in See, samstags absolviert sie eine zusätzliche Tagespassage. Dadurch verzögert sich die Abfahrt der Nachtfähre ein wenig. Die Überfahrt wird nun mit 12-13 Stunden veranschlagt. Der Fahrplan ist so ausgelegt, dass die Passagiere auf Hin- und Rückfahrt die Möglichkeit zur zollfreien Wareneinfuhr haben. Nach der ersten Sommersaison und im Verlauf des nächsten Jahres wird die Anzahl der Touren allmählich erhöht. Doch das ursprünglich geplante Ziel von zwei einfachen Fahrten pro Tag lässt sich nicht realisieren.
Um den Betrieb der großen Deutschland-Fähre effizienter zu gestalten, absolviert die STENA GERMANICA im Herbst 1976 auch Tagestouren auf der Route Göteborg-Frederikshavn. Für die STENA DANICA bedeutet dies eine große Entlastung.
Für das erste Jahr der Kiel-Strecke hatte die Stena Line 100.000 Passagiere veranschlagt, im Endeffekt belief sich die Zahl auf 120.000. Nichtsdestotrotz wirft die neue Route nicht genügend Gewinn ab. Aus diesem Grund wird der Betrieb im Herbst intensiviert, denn der Unterhalt der STENA GERMANICA erweist sich als äußerst kostenintensiv.
Eine weitere Großraumfähre
Im Dezember 1967 erfolgt die Lieferung des Schwesternschiffs der STENA GERMANICA: Von nun an bereichert die STENA BRITANNICA die Flotte der Stena Line. Sie ist im Großen und Ganzen mit ihrer Schwester identisch. Vor der Lieferung war in der Öffentlichkeit viel über den künftigen Einsatzort der STENA BRITANNICA spekuliert worden. Offenbar ist die Stena Line zu diesem Zeitpunkt der Meinung, dass sich zwei Fähren auf der Kiel-Linie finanziell nicht rechnen. Die Konkurrenten in Schweden und England blicken der Entscheidung sorgenvoll entgegen. Wird die STENA BRITANNICA womöglich auf der Strecke Esbjerg-Harwich verkehren? Oder vielleicht doch eher auf der Route Tilbury-Calais? Niemand kennt die Pläne der Reederei. Aber der Name der Fähre scheint immerhin auf einen britischen Hafen hinzudeuten.
Des Rätsels unerwartete Lösung: Die STENA BRITANNICA wird auf der Linie Göteborg-Frederikshavn eingesetzt, während die STENA DANICA an die britische Reederei Townsend Brothers Ferries verchartert wird. Wieder einmal zeigt sich das unkonventionelle Vorgehen der Stena Line in Tonnage-Fragen. Allerdings sichert sich die Reederei durch diesen Schachzug auf der Route nach Frederikshavn eine Tonnage, die die Tonnage der Konkurrenz in puncto Größe und Ausstattung um Längen schlägt. Die Stena Line sieht der weiteren Entwicklung optimistisch entgegen.
Andere Linien werden geschlossen
In der Sommersaison 1967 ist die gecharterte dänische Fähre LOHALS auf der Strecke Nakskov-Kiel für die Stena Line im Einsatz. Aufgrund des immer stärker werdenden Wettbewerbs ist der Betrieb auf dieser Strecke für die Stena Line allerdings nicht mehr so interessant. Ende des Sommers wird die Linie niedergelegt.
Beim Bau des neuen Fähranlegers in Naskov im Jahr 1965 hatte die Stena Line mit der Hafenleitung eine Nutzungsdauer von 10 Jahren vereinbart. Die Niederlegung der Linie zeigte jedoch, dass der Markt starken Schwankungen unterlag und eine weitere Prognose kaum getroffen werden konnte. Die Verhandlungen ziehen sich in die Länge und es dauert eine ganze Weile, bis eine einvernehmliche Einigung zur Schließung der Strecke erzielt werden kann.
Die Sommersaison 1967 ist für die Stena Line auch die letzte Saison auf der Linie Tilbury-Calais. In diesem Jahr läuft man sogar Southend an, um dort Ausflugsreisende an Bord zu nehmen. Die STENA BALTICA, die diese Strecke bedient, erweist sich als zu klein und hat nicht genügend Kapazität, um auf dieser anspruchsvollen Linie weiter bestehen zu können.
Die britischen Konkurrenten sehen den schwedischen Eingriff in den Fährbetrieb auf dem Ärmelkanal mit Missfallen. Dies erleichtert der Stena Line den Abschluss eines guten Geschäfts: Die britische Reederei Townsend Brothers Ferries entschließt sich kurzerhand zum Kauf der Linie. Gleichzeitig schließt die Stena Line mit den Briten für die kommende Winter- und Frühjahrssaison einen Charter-Vertrag für die STENA DANICA ab. Auf diese Weise kann man die neue und größere STENA BRITANNICA stattdessen auf der Linie nach Frederikshavn einsetzen. Im Verlauf des Jahres 1967 zeigt sich bei mehreren Gelegenheiten, wie flexibel und unkonventionell die Stena Line ihre Fähren einsetzt. Die Stena Line ist auf diesem Gebiet ein eindeutiger Vorreiter und bewirkt ein Umdenken in der Branche.
Autoren: Anders Bergenek und Rickard Sahlsten